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Jüdischer Neuanfang auf dem Gutshof Julius Streichers
Abraham Mathias konnte es nicht fassen: „Ich als Jude war auf der Farm von Julius Streicher, es ist unglaublich, dort wo vorher dieser Hetzer lebte!“ Abraham war damals gerade 17 Jahre alt und musste schon als Kind Zwangsarbeit leisten. Es scheint eine Ironie der Geschichte zu sein, dass sich ausgerechnet das Haus seines ärgsten Feindes im November 1945 in eine jüdische Trainingsfarm verwandelte. In den 1930er Jahren hatte der NSDAP-Gauleiter von Franken, Julius Streicher, den Pleikershof im Landkreis Fürth gekauft. Er finanzierte den Erwerb des Bauernhofs mit seinen Einnahmen aus dem Verkauf der antisemitischen Hetzschrift „Der Stürmer“. Nach Kriegsende beschlagnahmte die US-Militärregierung das Anwesen und stellte es Überlebenden der Shoa zur Verfügung. Eine über dem Eingangstor angebrachte Inschrift machte den Wechsel weithin sichtbar. „Bruchim Habajim“ (dt.: Herzlich Willkommen) war dort in hebräischen Lettern zu lesen.
Nach Kriegsende irrten die wenigen der Vernichtungslager entkommenen jüdischen Überlebenden durch das zerstörte Europa. Die durch das jahrelange Martyrium in den NS-Lagern gequälten Menschen brauchten eine vorübergehende Bleibe. Im Sommer des Jahres 1945 ordnete die Besatzungsmacht daher den Aufbau jüdischer DP (Displaced Persons)-Lager für die entwurzelten, verschleppten und geschundenen Menschen an. Erinnert sei an die bekannte Camps wie etwa Föhrenwald oder Landsberg in denen jeweils rund 5.000 Juden lebten. Daneben wurden über 40 kleinere Lager, sogenannte Trainingskibbuzim eingerichtet, wie etwa die jüdische Bauernschule auf dem Streicher-Hof. Die Kibbuzniks nannten ihren neues Zuhause Kibbuz Nili, eine Abkürzung des hebräischen Satzes „Nezach Israel lo Jeschaker“, zu deutsch etwa: Die Ewigkeit des Volkes Israel ist nicht zu verleugnen.
Als die Juden den Hof übernahmen, entdeckten sie ein Schild mit der Aufschrift: „Ohne Lösung der Judenfrage gibt es keine Lösung der Weltfrage.” Diese Tafel wurde nicht entfernt. Für die Kibbuzniks war diese Aussage mit der Einrichtung eines jüdischen Gemeinwesens verbunden. Nur durch die Gründung des Staates Israel konnte die „Judenfrage“ im Sinne der Shoa-Überlebenden gelöst werden.
In Palästina warteten unfruchtbare Landstriche darauf, in Äcker umgewandelt zu werden; aus Sümpfen sollte urbares Gebiet entstehen. Der Pleikershof war ein ideales Ausbildungscamp. Er umfasste über 80 Hektar landwirtschaftliche Fläche und Weideland für die Milchkühe. Zwei deutsche Landwirte betreuten und leiteten die Kibbuzniks an. Kaum einer der – vorwiegend aus Osteuropa stammenden – Juden hatte vor der Shoa Berührung mit Ackerbau und Viehzucht. „Wir haben im Feld und in den Ställen gearbeitet. Ich habe dort gelernt, Kühe zu melken. Wir alle haben gearbeitet, um zu lernen. Wir wollten nach Israel um dort Landwirtschaft zu betreiben”, erinnerte sich Esther Barkai, die im Warschauer Ghetto kämpfte und das KZ Majdanek nur knapp überlebte.
Chaim Shapiro, den Soldaten der Rote Armee aus dem Konzentrationslager Auschwitz befreiten, war einer der ersten jüdischen Bewohner des Pleikershofs. „Wir haben erst einmal Ordnung gemacht” berichtete er, als er mit einer kleinen Gruppe den Hof übernahm. Dabei bemerkten die Kibbuzniks schnell, dass ihr neues Heim nicht irgendein Gutshof war. Neben einigen Ausgaben des Hetzblattes „Der Stürmers“ sowie Exemplaren von „Mein Kampf“ fanden sie noch allerlei Nazi-Propaganda sowie die beiden Hunde von Streicher vor: Einen Bernhardiner und einen schwarzen Neufundländer.
Trotz dieser Erinnerungen an die dunkele Vergangenheit war die Stimmung auf dem Kibbuz optimistisch. Ausdruck für den Lebenswillen und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft sind einige Eheschließungen und Geburten. Darunter etwa Mirjam, die Tochter von Chaim und Levkadia Shapiro, die sich recht bald mit Streichers Bernhardiner „Nero“ anfreundete. Das junge Paar war im Frühjahr 1946 von einem US-Rabbiner vor dem Gerichtsgebäude des „International Military Tribunal“ getraut worden. „Wir haben unterschrieben, sind zusammengezogen, haben ein Kind gemacht und sind nach Israel gegangen“, erinnerte sich Chaim, der im März 1948 illegal nach Erez Israel einreiste. „Unser Blick war auf die Zukunft gerichtet”, beschrieb auch Jacob Hennenberg die damalige Stimmung. Er war als einer der wenigen nicht nach Palästina, sondern in die USA emigriert. Die große Mehrheit wollte jedoch ins Gelobte Land, sie fieberte dem Tag der Abreise entgegen.
Nachdem die Kibbuzniks ihre landwirtschaftliche Grundausbildung absolviert hatten, machten sich die „Palästinasiedler“ heimlich auf den Weg. „Von einem Tag auf den anderen waren ganze Gruppen verschwunden“, weiß Jacob Hennenberg zu berichten. Eine legale Einwanderung ins Land ihrer Väter war durch die Briten weiterhin verboten. Doch die „Bricha“ (dt. Flucht), eine jüdische Selbsthilfeorganisation, brachte die Menschen auf verschlungenen Wege in italienische oder französische Hafenstädte. Viele hatten jedoch kein Glück. Die Engländer fingen ihre Schiffe ab und sperrten die Passagiere in mit Stacheldraht umzäunte Lager auf Zypern. Auch Esther Barkai und Abraham Mathias verbrachten einige Monate in einem solchen Internierungscamp. Erst kurz vor Gründung des Staates Israel im Mai 1948 durften sie die Insel verlassen.
„Israel ist die Heimat aller Juden“, stellte Chaim Shapiro nachdrücklich fest, der Jahrzehnte im Kibbuz Mischmar HaScharon in der Nähe von Netanja lebte, „aber der Pleikershof war unser Weg zur Heimat, Kibbuz Nili war der Korridor, der nach Israel führte.“
Die jüdische Bauernschule auf dem Streicher-Hof existierte rund drei Jahre. Im Oktober 1948 sind noch 28 Bewohner nachweisbar. Nach Auflösung zum Jahresende verzogen einige Kibbuzniks ins nahegelegene Fürth und wurden dort Mitglieder der Jüdischen Gemeinde. – (jgt)
Pleikershof: „Kibbutz Nili was the corridor that led to Israel.“
Jewish new start on Julius Streicher’s manor farm
Abraham Mathias couldn’t believe it: “I, as a Jew, was on Julius Streicher’s farm – it’s unbelievable, right there where this agitator used to live!“ Abraham was just 17 years old at the time and was forced into labour even as a child. It seems an irony of history that, of all places, the home of his worst enemy was turned into a Jewish training farm in November 1945. In the 1930s, the NSDAP Gauleiter of Franconia, Julius Streicher, had bought the farm Pleikershof in the district of Fürth. He financed its purchase with his income from the sale of the inflammatory, anti-Semitic publication „Der Stürmer.“ After the end of the war, the U.S. military government confiscated the property and made it available to survivors of the Shoah. An inscription affixed above the entrance gate made the change visible from afar; the words „Bruchim Habajim“ (Engl.: Welcome) could be read there in Hebrew letters.
After the end of the war, the few Jewish survivors who had escaped the extermination camps wandered around a devastated Europe. Tormented by years of martyrdom in the Nazi camps, they needed a temporary place to stay. So, in the summer of 1945, the occupying powers ordered the construction of Jewish DP (Displaced Persons) camps for the uprooted, displaced and maltreated people. One recalls the well-known camps such as Föhrenwald or Landsberg, each of which was home to around 5,000 Jews. In addition, more than 40 smaller camps, so-called training kibbutzim, were established, such as the Jewish farmer’s school on the Streicher farm. The kibbutzniks called their new home Kibbutz Nili, an abbreviation of the Hebrew phrase „Nezach Israel lo Yeshaker,“ which roughly means: The eternity of the people of Israel cannot be denied.
When the Jews took over the farm, they discovered a sign that read, „Without a solution to the Jewish question, there is no solution to the world question.“ This plaque was not removed. For the kibbutzniks, this statement was linked to the establishment of a Jewish community. Only through the establishment of the State of Israel could the „Jewish question“ be solved for the Shoah survivors in their interpretation of the meaning.
In Palestine, barren lands were waiting to be transformed into fields; swamps were to become arable land. The Pleikershof was an ideal training camp. It had over 80 hectares of agricultural land and pasture for the dairy cows. Two German farmers supervised and guided the kibbutzniks. Hardly any of the Jews – mostly from Eastern Europe – had any experience with farming and livestock before the Shoah. „We worked in the fields and in the barns. I learned to milk cows there. We all worked in order to learn. We wanted to go to Israel to farm,“ recalled Esther Barkai, who fought in the Warsaw Ghetto and only just survived the Majdanek concentration camp.
Chaim Shapiro, liberated by Red Army soldiers from the Auschwitz concentration camp, was one of the first Jewish residents of Pleikershof. „We put things in order first of all,” he reported when he took over the farm together with a small group. In the process, the kibbutzniks were quick to realise that their new home was not just any farm. In addition to several issues of the inflammatory newspaper „Der Stürmer“ and copies of „Mein Kampf,“ they found all kinds of Nazi propaganda and Streicher’s two dogs: A St. Bernard and a black Newfoundland.
Despite these reminders of the dark past, the mood on the kibbutz was optimistic. Signs of their will to live and hope for a better future could be seen in several marriages and births. Among them was Mirjam, the daughter of Chaim and Levkadia Shapiro, who quite soon became friends with Streicher’s St. Bernard „Nero“. The young couple had been married in the spring of 1946 by a U.S. rabbi in front of the „International Military Tribunal“ courthouse.”We gave our signatures, moved in together, had a baby and left for Israel,“ recalled Chaim, who entered Erez Israel illegally in March 1948. „Our eyes were on the future,“ said Jacob Hennenberg, too, describing the mood at the time. He was one of the few who had not emigrated to Palestine, but to the United States. The vast majority, however, wanted to go to the Promised Land; they were eagerly awaiting the day of departure.
After the kibbutzniks had completed their basic agricultural training, the „Palestine settlers“ secretly set out. „From one day to the next, whole groups disappeared,“ Jacob Hennenberg reports. Legal immigration to the land of their fathers was still forbidden by the British. But the „Bricha“ (Engl.: escape), a Jewish self-help organisation, brought people along tortuous routes to Italian or French city ports. However, many had no luck. The British intercepted their ships and locked the passengers up in camps with barbed wire fencing on Cyprus. Esther Barkai and Abraham Mathias also spent several months in such an internment camp. Only shortly before the founding of the State of Israel in May 1948 were they allowed to leave the island.
„Israel is the homeland of all Jews,“ stated Chaim Shapiro emphatically, who lived for decades at Kibbutz Mishmar HaSharon near Netanya, „but the Pleikershof was our route to the homeland – Kibbutz Nili was the corridor leading to Israel.“
The Jewish farm school on the Streicher farm existed for about three years. There is evidence of 28 residents still there in October 1948. After its dissolution at the end of the year, some kibbutzniks moved to nearby Fürth and became members of the Jewish community there. – (Translation: CB)
Quellen | References
Archive | Archives
- American Jewish Joint Distribution Committee Archives, New York
AR 45/54 Germany - Archiv Marktgemeinde Cadolzburg
Standesamt Steinbach - Staatsarchiv Nürnberg
Landratsamt Fürth - YIVO Institute for Jewish Research, New York
Displaced Persons Centers and Camps in Germany/ Leo W. Schwarz Papers / Jewish Displaced Persons Periodicals
Literatur | Literature
- Jim G. Tobias, Vorübergehende Heimat im Land der Täter: Jüdische DP-Camps in Franken 1945-1949, Nürnberg 2002
Lexikoneintrag | Lexicon entry
Pleikershof – Kibbuz Nili (Hachschara) | Kibbutz Nili (Hachsharah)
Letzte Aktualisierung: 08.07.2021