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Nach Kriegsende suchten etwa 3.000 befreite jüdische KZ-Häftlinge, um die sich die französische Militärregierung nicht kümmerte, über Konstanz in die Schweiz zu gelangen. Anfang Juni 1945 wandten sich einige von ihnen an den Verband jüdischer Flüchtlingshilfen in Zürich und baten um Hilfe.
Der französische Befehlshaber der 1. Französischen Armee, General Lattre de Tassigny, ließ einige Tausend französische Häftlinge aus KZs in Bayern und Österreich im Mai 1945 zur Erholung auf die von der Bevölkerung evakuierten Bodenseeinseln Reichenau und Mainau bringen. In Gailingen wurden 90 jüdische Personen einquartiert. Der Ort war aus militärischen Gründen bis zum Sommer von der Bevölkerung zeitweise geräumt worden.
Erste Hilfe erhielten die Shoa-Überlebenden im Bodenseeraum von jüdischen Organisationen aus der Schweiz. Das American Jewish Joint Distribution Committee (AJDC) und die britische Jewish Relief Unit (JRU) entsandten ihre Vertreter erst später in die französische Besatzungszone (FBZ). Am 7. September 1945 beauftragte der Biberacher UNRRA-Chef einen Bewohner des DP-Kibbuz‘ im Jordanbad, zum UNRRA-Büro nach Rottweil zu reisen, um mit deren Unterstützung in Gailingen eine Hachschara, eine landwirtschaftliche oder handwerkliche Ausbildungsstätte, aufzubauen, die auf die Auswanderung nach Palästina vorbereiten sollte. Die Einrichtung wurde schließlich im Friedrichsheim unter Beisein von Vertretern der Militärregierung, Mitgliedern Schweizer Hilfsorganisationen und Delegierten der jüdischen Komitees in der FBZ am 17./18. November 1945 feierlich eingeweiht.
Am 27. Dezember 1945 befanden sich in Gailingen 87 jüdische DPs, darunter etwa 37 Frauen bzw. junge Mädchen. Obwohl die französischen Behörden den weiteren Zuzug in ihre Zone zu unterbinden versuchten, herrschte unter der jüdischen DPs eine hohe Mobilität. Aus ost- und südosteuropäischen Staaten flohen Shoa-Überlebende über Österreich in die FBZ. Sie hofften, über Frankreich oder Italien nach Palästina weiterreisen zu können. Das Pogrom im polnischen Kielce führte ab Sommer 1946 zu einer Fluchtwelle von Juden ins besetzte Deutschland, die die Grenzen der Besatzungszonen illegal überquert hatten.
Das etwas abseits liegende Gailingen bot sich als Durchgangsstation für diesen Personenkreis an. Die jüdische Fluchthilfeorganisation Bricha, die Jewish Agency for Palestine und auch die US-amerikanische Hilfsorganisation AJDC unterstützen diese Flüchtlinge.
So entstanden im Laufe der Zeit in Gailingen vier Lager, die sich als Kibbuzim weitgehend selbst verwalteten. Es handelt sich um die Hachschara im Friedrichsheim, den Kibbuz Dror (Freiheit) im Schloss Rheinburg, den Kibbuz Moledet (Heimat) im einstigen Jüdischen Krankenhaus an der Büsinger Straße und den Kibbuz Hagana (Verteidigung) im ehemaligen Jüdischen Schulhaus.
Die offiziellen Belegungszahlen dieser Lager betrugen im November 1946 insgesamt 284 Personen. Nach Ansicht des UNRRA-Assistant Field Supervisor für Südost-Baden sollen die tatsächlichen Belegungszahlen in Gailingen jedoch bei Weitem höher gewesen sein – bis zu 500 jüdischen DPs.
Mit der Betreuung in Gailingen war zunächst der Service P.D.R. der französischen Armee, der für Personnes Déplacées et Réfugiés zuständig. Das UNRRA-Team Konstanz übernahm die Lager in Gailingen erst im Mai 1946. Leiter war ein Brite, der jegliche Begünstigung politischer oder religiöser Strömungen in den Lagern unterband. Auch stellte er sich gegen Auswanderungsbestrebungen der jüdischen DPs und vereitelte deren Kontakte in die US-Zone, was den Interessen der DPs widersprach. Er behinderte zudem die Tätigkeit einer Mitarbeiterin der britischen Hilfsorganisation JRU und entließ diese. Deshalb wurde er von seinem Posten abberufen. Die im September 1946 neu eingesetzte Lagerleitung unter einem französischen UNRRA-Bediensteten setzte die Interessen jüdischer DPs gegenüber der deutschen Verwaltung und der französischen Besatzungsmacht nun eher durch.
So konnten die Einrichtungen in Gailingen zwischen November 1946 und Februar 1947 als Auffang- und Transitlager für jüdische „infiltrees“ aus Osteuropa genutzt werden, die nach Palästina emigrieren wollten. Die jungen Leute des Kibbuz Hagana verschwanden am 2. November 1946. In der Nacht vom 27. auf 28. Februar 1947 verließen alle Mitglieder des Kibbuz Dror das Lager Rheinburg unter dem Vorwand, in ein Kino nach Konstanz bzw. auf eine Hochzeit im Kibbuz Egg fahren zu wollen.
Ende März 1947 gab die UNRRA die in Gailingen beschlagnahmten Gebäude wieder frei. Nach der Auflösung von drei Kibbuzim war seit Herbst 1947 nur noch das Friedrichsheim mit jüdischen DPs belegt. Das Haus wurde nun vom Jüdischen Zentralkomitee in der französischen Besatzungszone verwaltet und von einem DP geleitet, der sich schon Anfang 1947 in Gailingen als Friseur niedergelassen hatte. Zu dieser Zeit lebten rund 100 Juden im Friedrichsheim. Zum Jahresanfang 1950 reisten die letzten jüdische Bewohner ab, um nach Israel oder Übersee auszuwandern. Danach erwarb die deutsche Kreisverwaltung Konstanz das Anwesen und eröffnete dort ein Altersheim mit 65 Heimplätzen. – (Reinhold Adler)
Quellen | References
Archive | Archives
- American Jewish Joint Distribution Committee Archives, New York
AR 45/54 Germany - Wiener Library, London
- YIVO Institute for Jewish Research, New York
Leo W. Schwarz Papers/Displaced Persons Centers and Camps in Germany
Literatur | Literature
- Reinhold Adler, Die UNRRA in Gailingen und ihre Lager für jüdische Displaced Persons in der Nachkriegszeit, in: Hegau-Jahrbuch, Umbruchzeiten (2018)
Lexikoneintrag | Lexicon entry
Gailingen – Jüdische DP-Gemeinschaft (Hachschara) | Jewish DP Community (Hachsharah)
Letzte Aktualisierung: 12.11.2022