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Der bei Kriegsende bereits 75-jährige Richard Gräfenberg, einer der vier Göttinger Juden, die in Göttingen selbst überlebt hatten (drei davon wie Gräfenberg selbst, weil sie einen „arischen“ Ehepartner hatten), erstellte im Oktober 1945 eine erste Liste der in Göttingen zu diesem Zeitpunkt lebenden Juden. Doch fanden sich auf dieser 23 Namen umfassenden Liste sowohl eine Reihe von Personen, die evangelisch getauft waren, als auch solche, die keine Juden waren; andere, die eindeutig jüdisch waren, fehlten wiederum. Das erklärt sich zum einen dadurch, dass die Fluktuation in den jüdischen Nachkriegsgemeinden sehr hoch war, vor allem aber auch dadurch, dass es schwer zu entscheiden, wer nun überhaupt Jude war und wer nicht. Denn die nationalsozialistische Definitionsmacht wirkte noch lange über den Zusammenbruch des Regimes hinaus, was zur Folge hatte, dass bis weit in die 1950er Jahre hinein in vielen Einzelfällen eine sorgfältige und aufwendige Überprüfung persönlicher Daten (mit den aufgrund der fehlenden Unterlagen damit verbunden Schwierigkeiten) nötig war. Diesen vielfältigen Schwierigkeiten entsprechend sind auch die von Gräfenberg für die folgenden Jahre aufgestellten Listen nicht immer zuverlässig. Dennoch lässt sich sagen, dass die Zahl der Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Göttingen, die jetzt ganz Südniedersachsen umfasste (also insbesondere auch die Dörfer und Städte Rosdorf, Bovenden, Hann. Münden, Adelebsen und Dransfeld), in den ersten Nachkriegsjahren zunächst einmal kontinuierlich zunahm: Von 18 im März 1946 (von denen mindestens zwölf im KZ gewesen waren) stieg sie auf über 30 Mitte des Jahres 1946 und knapp unter 40 im Mai 1947 und auch noch im Juni 1948. Erst im Juli 1949 sank sie – vor allem durch Auswanderung, aber auch durch den Tod einiger älterer Gemeindemitglieder – wieder auf unter 30, und im Dezember 1949 wurden dann nur noch 19 Mitglieder gezählt. Die Zunahme während der Jahre 1946/47 ging wie überall in den westlichen Besatzungszonen vor allem auf die Zuwanderung von polnischen Juden zurück, die vor den antisemitischen Ausschreitungen im Nachkriegspolen geflohen waren. Dazu kamen weitere Flüchtlinge aus anderen osteuropäischen Ländern oder auch aus der sowjetischen Besatzungszone. So stammten von den 33 Anfang Juli 1946 in Göttingen lebenden Juden 14 aus Polen oder den polnisch besetzten Gebieten, einer aus Königsberg, zwei aus der Sowjetzone und zwei aus Ungarn. Im Mai 1947 kamen von den 37 aufgeführten Personen 17 aus Polen oder den polnisch besetzten Gebieten; 13 von ihnen wanderten im Laufe der nächsten Monate oder Jahre nach Israel, New York oder Italien aus. Mit der Aufhebung jeglicher Auswanderungssperren nach Palästina im Februar 1949 nahm die Fluktuation in den jüdischen Gemeinden Deutschlands erheblich ab, und die Zahl der Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Göttingen stabilisierte sich Anfang der 1950er Jahre bei etwa zwanzig.
Richard Gräfenberg ist es zu verdanken, diese nach Göttingen strömenden Menschen, die wenig mehr miteinander verband als die Erfahrung von Verfolgung und Misshandlung, in einer Gemeinde versammelt zu haben. Er stellte ihnen nicht nur in seinem Haus in der Planckstraße 12 einen Betraum und ein Büro zur Verfügung, sondern nahm auch vom ersten Tag an völlig selbstverständlich die Aufgaben eines Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde wahr. Eine formale Bestätigung dieser seiner Funktion durch die Gemeinde scheint es dabei nicht gegeben zu haben. Doch kann man den Akten entnehmen, dass Gräfenberg selbst dieses Amt als Fortsetzung seiner schon während des Krieges wahrgenommenen Aufgaben ansah. So war er spätestens nach der letzten großen Deportation der jüdischen Göttinger im Juli 1942 Ansprechpartner für die Stadt und insbesondere für das Finanzamt Göttingen gewesen, das nach der Auflösung der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ im Juni 1943 für die Verwaltung des noch nicht veräußerten Vermögens der jüdischen Gemeinde zuständig war. Seit August 1948 wurde Gräfenberg, der vor allem mit der Beantwortung der vielen aus dem Ausland kommenden Anfragen und der Bearbeitung der sich daraus ergebenen sog. Wiedergutmachungsansprüche beschäftigt war, von Max Lilienthal aus Bovenden unterstützt, der einer der beiden Göttinger Überlebenden des Transports vom 21. Juli 1942 war. Seit Dezember 1948 arbeitete auch Gerda Bürgenthal-Reitter, geb. Silbergleit, im Gemeindebüro, die bis 1933 in Göttingen gewohnt hatte, dann aber ihrem Mann in die Tschechoslowakei gefolgt war, von wo sie, ihr Mann und ihr Sohn Thomas nach Auschwitz deportiert worden waren. Alle drei überlebten.
Max Lilienthal und Gerda Bürgenthal kümmerten sich vor allem um die Verteilung der Spenden an die vielen notleidenden Gemeindemitglieder. Gerda Bürgenthal betreute außerdem die Kranken (viele der ehemaligen KZ-Insassen waren schwer krank) und verwaltete die Kasse der Gemeinde, die allerdings vor allem nach der Währungsreform so gut wie leer war. Die Armut der Gemeinde erschwerte ihre Arbeit ungemein, zumal die Rückgabe- bzw. Entschädigungsverfahren für den ehemaligen Gemeindebesitz, wie insbesondere für das Synagogengrundstück und das Gemeindehaus in der Weender Landstraße 26 noch Jahre in Anspruch nehmen sollten. So kam es, dass im ehemaligen, 1944 von der Gestapo bezogenen Jüdischen Gemeindehaus, im Jahre 1947 immer noch die Polizei residierte und das Synagogengrundstück der Gemeinde erst 1952 wieder zugesprochen wurde. Auch der Friedhof, der zwar verwüstet worden war, aber im Gegensatz zu vielen anderen jüdischen Friedhöfen immerhin noch existierte, wurde erst nach einem Protestschreiben des im März 1946 durch Göttingen reisenden, aus London stammenden Rabbiners A. Goldfinger im Juli 1946 instandgesetzt und stand noch bis 1949 unter der Verwaltung des Finanzamtes.
Nach Gräfenbergs Tod 1951 übernahm zunächst Ernst Engwicht die Führung der Gemeindegeschäfte und 1956 wurde dann Max Lilienthal Vorsitzender der Göttinger Gemeinde, die übrigens nach der Zwangsumwandlung der jüdischen Gemeinden im März 1938 in eingetragene Vereine nie formal aufgelöst worden war und daher weder 1945 noch bei deren Wiederbelebung 1994 neu gegründet werden musste. – (Cordula Tollmien)
The Jewish DP Community in Göttingen 1945–1949
In October 1945, Richard Gräfenberg, already 75 at the end of the war, drew up an initial list of the Jews living in Göttingen at that time. He was one of the four Göttingen Jews who had survived in Göttingen (three of them, like Gräfenberg, because they had an „Aryan“ spouse). However, this list of 23 names included a number of persons who had been baptised Protestant as well as those who were not Jews. Others, on the other hand, who were clearly Jewish, were missing. This can be explained in part by the very high fluctuation in the Jewish post-war communities, but mainly by the fact that it was difficult to decide who was Jewish and who was not. The reason for this was that the National Socialist power of definition continued to have an effect long after the collapse of the regime. This meant that until well into the 1950s a careful and laborious verification of personal data was necessary in many individual cases (with the problems associated with the lack of documentation). As a result of these many difficulties, the lists drawn up by Gräfenberg for the following years are not always reliable. Nevertheless, it can be said that the number of members of the Jewish community grew larger in Göttingen – which now included the whole of southern Lower Saxony (i.e., in particular the villages and towns of Rosdorf, Bovenden, Hann. Münden, Adelebsen, and Dransfeld). At first their number increased continuously in the first post-war years, from 18 in March 1946 (of which at least 12 had been in the concentration camp) to over 30 in mid-1946 and just under 40 in May 1947, and even in June 1948. It was not until July 1949 that it sank again to below 30, primarily due to emigration, but also to the death of some older members of the community. In December 1949 there were just 19 members left. The increase during 1946/47, like all over the western occupation zones, was primarily due to the immigration of Polish Jews who had fled the anti-Semitic riots in post-war Poland. In addition, there were further refugees from other Eastern European countries or from the Soviet occupation zone. Of the 33 Jews living in Göttingen in early July 1946, 14 came from Poland or the Polish occupied territories, one from Königsberg, two from the Soviet zone, and two from Hungary. In May 1947, 17 of the 37 listed persons came from Poland or the Polish-occupied territories; 13 of them emigrated to Israel, New York, or Italy in the course of the following months or years. With the lifting of all emigration barriers to Palestine in February 1949, the fluctuation in the Jewish communities in Germany decreased considerably, and the number of Jewish community members in Göttingen remained stable at about twenty in the early 1950s.
It is thanks to Richard Gräfenberg that these people flocking to Göttingen – who had little more in common than their experience of persecution and mistreatment – joined together in one community. Not only did he provide them with a prayer room and an office in his house at Planckstraße 12, but from the very first day naturally assumed the duties of a chairman of the Jewish community. There seems to have been no formal confirmation of this function by the community, but records show that Gräfenberg himself regarded this office as a continuation of the duties he had already performed during the war. After the last major deportation of the Jewish citizens of Göttingen in July 1942, he was the contact person for the city and especially for the Göttingen tax office, responsible for the administration of the Jewish community’s assets that had not yet been sold following the dissolution of the „Reich Association of Jews in Germany“ in June 1943. Gräfenberg was primarily responsible for answering the many inquiries coming from abroad and for processing the resulting so-called reparation claims. From August 1948 on he was supported by Max Lilienthal from Bovenden, one of the two Göttingen survivors of the transport of July 21, 1942. From December 1948, Gerda Bürgenthal-Reitter, née Silbergleit, also worked in the Jewish community office. She had lived in Göttingen until 1933, but then followed her husband to Czechoslovakia, from where she, her husband, and her son Thomas had been deported to Auschwitz. All three survived.
Max Lilienthal and Gerda Bürgenthal were mainly responsible for distributing donations to the many needy members of the community. Gerda Bürgenthal also cared for the sick – many of the former concentration camp inmates were seriously ill. She also managed the community’s treasury, which was, however, practically empty, especially following the currency reform. The community’s lack of money made her work immensely difficult, especially as the restitution and compensation proceedings for the former community property – mainly of the synagogue and the community centre at Weender Landstraße 26 – were to take years. Consequently, the police still resided in the former Jewish Community Centre in 1947, having been occupied by the Gestapo in 1944, and the synagogue property was not returned to the community until 1952. The cemetery, too, which had been devastated but still existed (unlike many other Jewish cemeteries), was not restored until July 1946 following a letter of protest from Rabbi A. Goldfinger. Originally from London, he had travelled through Göttingen in March 1946. It remained under the administration of the tax office until 1949. After Gräfenberg’s death in 1951, Ernst Engwicht initially took over the management of the community affairs. Then, in 1956, Max Lilienthal became chairman of the Göttingen community. As it had never actually been formally dissolved following the forced conversion of the Jewish communities into registered associations in March 1938, no new founding was needed in 1945 nor upon revival in 1994. – (Translation: CB)
Quellen | References
Archive | Archives
- Stadtarchiv Göttingen
- Wiener Library, London
Literatur | Literature
- Thomas Buergenthal, Ein Glückskind. Wie ein kleiner Junge zwei Ghettos, Auschwitz und den Todesmarsch überlebte, Frankfurt am Main 2007
- Cordula Tollmien, Juden in Göttingen 1945–1994, in: Göttingen – die Geschichte einer Universitätsstadt, Band 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866–1989 (hg. von Rudolf von Thadden und Jürgen Trittel), Göttingen 1999, S. 733–760
Lexikoneintrag | Lexicon entry
Göttingen – Jüdische DP-Gemeinde | Jewish DP Community
Letzte Aktualisierung: 17.09.2020