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In Hannover bestand mit zeitweilig an die 1.200 Mitgliedern die nach Bergen-Belsen größte jüdische DP-Gemeinde auf dem Gebiet des heutigen Landes Niedersachsen. Ihre Zentren waren ehemalige Gemeindegebäude in der Ohestraße und ein städtisches Gebäude im Stadtteil Vinnhorst. Ein Kibbuz mit jüdischen DPs existierte auf dem Gebiet der Gemeinde Ahlem, die erst 1974 nach Hannover eingegliedert wurde.
Ohestraße
Das Jüdische Komitee Hannover entstand in der zweiten Jahreshälfte 1945 in ehemaligen Gemeindehäusern der Jüdischen Gemeinde in der Ohestraße 8 und 9 im Stadtteil Calenberger Neustadt. Der genaue Zeitpunkt ist nicht mehr festzustellen. Zeitzeugen zufolge waren die Gebäude schon in den Monaten zuvor von jüdischen Überlebenden der hannoverschen KZ-Außenlager und des KZ Bergen-Belsen in Beschlag genommen – ein Dokument der Stadtverwaltung zählte im Juni 1945 mehr als 300 ausländische Bewohner. Es handelte sich dabei vorwiegend um Juden polnischer Nationalität. Von den britischen Behörden wurden die Häuser Ende November 1945 offiziell zum Assembly Center erklärt. Nach Unterlagen der UNRRA aus dem Juli 1946 befanden sich im Vorderhaus ein Versammlungsraum, ein Sportraum, ein Klubraum sowie ein Klassenzimmer und eine Schneiderwerkstatt. Das Hintergebäude, kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs als jüdischer Kindergarten und -hort gebaut, nahm das Büro des Komitees, eine Synagoge und die Krankenabteilung auf. Hinzu kamen in beiden Häusern zahlreiche Lagerräume, Schlafzimmer sowie gemeinschaftlich genutzte Küchen und Sanitäranlagen für die zwischen 140 und 195 Bewohnerinnen und Bewohner. Zeitzeugenberichten zufolge mussten sich oft bis zu acht Menschen ein Zimmer teilen. Deshalb ist es verständlich, dass sich gegen Ende 1945 mehrere Hundert Überlebende als „free living Jews“ einen Wohnraum außerhalb des Camp gesucht hatten.
Das Jüdische Komitee mit Sitz in der Ohestraße verstand sich als Teil des übergreifenden „Zentralkomitees der befreiten Juden in der britischen Zone“ im DP-Camp Bergen-Belsen. Wie dort waren seine Aufgaben weit gefächert: Vertretung der lokalen wie durchreisenden Jüdinnen und Juden gegenüber den deutschen und britischen Behörden, Verteilung von Hilfsgütern, Hilfe bei der Registrierung und der Suche nach Angehörigen, gesundheitliche Fürsorge, Förderung des sozialen, religiösen und kulturellen Lebens und nicht zuletzt die Unterstützung bei der Auswanderung. Aufgrund ihrer Innenstadt nahen Lage bildete die Ohestraße das Zentrum (ost)jüdischen Lebens in Hannover. Gleichzeitig bestand Austausch mit den weiter außerhalb liegenden Camps in Ahlem und Vinnhorst. Dies wird auch dadurch deutlich, dass im November 1946 die erste geheime Wahl eines Vorstands im Lager Vinnhorst begann und die Urnen anschließend in die Ohestraße gebracht wurden, wo die innerstädtische DP-Bevölkerung abstimmte. Vorsitzender des neuen, neunköpfigen Vorstands wurde mit Roman Berger ein Überlebender des KZ Bergen-Belsen. Auch in der Bildung herrschte enge Kooperation: Die im Frühjahr 1946 in der Ohestraße eingerichtete Schule wurde maßgeblich von Nisan Tykocinski aufgebaut, einem Initiator des Kibbuz „Befreiung“ in Ahlem, Jehuda Merin aus Ahlem übernahm den Hebräisch-Unterricht für die kleineren Kinder. Die jüdische Selbsthilfeorganisation ORT bot Kurse zur Berufsbildung an – in zwei Wellblechbaracken auf dem Gelände an der Ohestraße fanden Lehrgänge für Maschinenschlosser, Automechaniker, Schweißer und Elektrotechniker statt.
Im Januar 1946 war Chaim Pinchas Lubinsky aus Bergen-Belsen zum Chief Rabbi Hannovers ernannt worden und es entwickelte sich ein intensives Gemeindeleben: Im zurückliegenden Gebäude Ohestraße 9 wurde ein Betraum eingerichtet, im Vorderhaus bestand ein koscheres Restaurant, eine Badeanstalt in der Oberstraße gegenüber dem ältesten Jüdischen Friedhof Hannovers konnte als rituelles Tauchbad genutzt werden. Für das Jahr 1947 verzeichnete das Rabbinat Hannover 111 Hochzeiten.
Die Ohestraße war im November 1945 Schauplatz eines Ereignisses, über das international berichtet wurde: Als eine große Menge DPs gegen die Palästinapolitik Großbritanniens protestierte, wurde die unerlaubte Versammlung von britischer Militärpolizei gewaltsam aufgelöst. In einem folgenden Prozess wurden Freiheitsstrafen verhängt, die zu scharfen Protesten des jüdischen Zentralkomitees führten.
Vinnhorst
Nach Augenzeugenberichten wurde ein städtisches Gebäude im Stadtteil Vinnhorst am Mittellandkanal im Juni 1945 von jüdischen, aus dem Krankenhaus entlassenen ehemaligen KZ-Häftlingen besetzt. Es verfügte über 105 Zimmer. Das zuständige UNRRA-Team zählte im März 1946 als Bewohnerinnen und Bewohner 111 Frauen, 96 Männer und 11 Kinder und Jugendliche polnischer Nationalität. Viele der weiblichen DPs kannten sich aus der Gefangenschaft im KZ-Außenlager Salzwedel in der Altmark. Bedingt durch die eigene Verwaltung und eine große Entfernung zum Stadtzentrum entwickelte sich das Camp Vinnhorst in relativer Autonomie mit kulturellen Angeboten und beruflichen Weiterbildungskursen insbesondere im Textilbereich.
Auflösung der Camps in Hannover
Das Camp Vinnhorst war 1948 auf 50–60 Personen geschrumpft und wurde im Jahre 1949 aufgelöst, das Camp in der Ohestraße 8/9 wurde im Juni 1949 von den britischen Behörden geräumt an die Stadt zurückgegeben. Die meisten jüdischen DPs waren nach Gründung Israels und Lockerung der Einwanderungsbestimmungen in die USA und nach Kanada emigriert. Im Dezember 1950 zählte das Komitee nur noch 250 Mitglieder, die im Laufe der 1950er Jahre entweder ebenfalls auswanderten oder sich der nach 1945 wiederbegründeten deutschen „Jüdischen Gemeinde“ anschlossen. – (Michael Pechel)
Jewish DPs in Hanover
After Bergen-Belsen the largest Jewish DP community was in Hanover, in what is now Lower Saxony, with at times around 1,200 members. Its centres were former community buildings in Ohestrasse and a municipal building in the Vinnhorst district. A kibbutz with Jewish DPs existed in the Ahlem community area, which was not brought to Hanover until 1974.
Ohestrasse
The Jewish Committee Hanover was established in the second half of 1945 in former Jewish community buildings at Ohestrasse 8 and 9 in the Calenberger Neustadt district. The exact date can no longer be determined. According to contemporary witnesses, the buildings had already been occupied in previous months by Jewish survivors of the Hanoverian satellite concentration camps and the Bergen-Belsen concentration camp – a document from the city administration counted more than 300 foreign residents in June 1945, mainly Jews of Polish nationality. These houses were officially declared an Assembly Centre by the British authorities at the end of November 1945. According to UNRRA documents from July 1946, the front building contained a meeting room, a sports room, a club room, as well as a classroom and a tailors’ workshop. The rear building, built shortly before the start of World War I as a Jewish kindergarten and nursery, housed the committee’s office, a synagogue, and the infirmary. In addition, there were numerous storerooms, bedrooms, communal kitchens and sanitary facilities in both buildings for the residents who numbered between 140 and 195. According to contemporary witnesses, up to eight people often had to share one room. It is therefore understandable that towards the end of 1945, several hundred survivors sought living quarters outside the camp as „free living Jews“.
The Jewish Committee, with its headquarters in Ohestrasse, saw itself as part of the whole „Central Committee of Liberated Jews in the British Zone“ in the Bergen-Belsen DP camp. As there, its tasks were also wide-ranging: representation of local and transiting Jews towards the German and British authorities, distribution of relief supplies, help with registration and finding relatives, health care, promotion of social, religious and cultural life and, last but not least, assistance with emigration. Due to its location close to the city centre, Ohestrasse was the focal point of (Eastern) Jewish life in Hanover. At the same time, there was interaction with the camps in Ahlem and Vinnhorst, which were located further out. This can also be seen clearly by the fact that in November 1946 the first secret election of a board of directors began in the Vinnhorst camp and the ballot boxes were then brought to Ohestrasse, where the inner-city DP population voted. The chairman of the new, nine-member board was Roman Berger, a survivor of the Bergen-Belsen concentration camp. There was also close cooperation in education: the school established in Ohestrasse in the spring of 1946 was largely built up by Nisan Tykocinski, an initiator of the „Liberation“ kibbutz in Ahlem; Jehuda Merin from Ahlem took over the Hebrew lessons for the younger children. The Jewish self-help organisation ORT offered vocational training courses; in two corrugated-iron barracks on the premises on Ohestrasse, courses were held for machinists, auto mechanics, welders and electrical technicians.
In January 1946 Chaim Pinchas Lubinsky from Bergen-Belsen had been appointed Chief Rabbi of Hanover and a lively community life developed. A prayer room was set up in the rear building at Ohestrasse 9, a kosher restaurant was in the front building, and a bathhouse in Oberstraße opposite Hannover’s oldest Jewish cemetery could be used as a ritual bath for immersions. For the year 1947, the Rabbinate of Hanover recorded 111 weddings.
Ohestrasse was the scene of an event in November 1945 that was reported internationally. When a large crowd of DPs protested against Britain’s Palestine policy, the unauthorised gathering was forcibly dispersed by the British military police. In a subsequent trial, prison sentences were imposed, leading to vehement protest from the Jewish Central Committee.
Vinnhorst
According to eyewitness accounts, a municipal building in the Vinnhorst district on the Mittelland Canal was occupied in June 1945 by Jewish former concentration camp prisoners who had been discharged from the hospital. It had 105 rooms. In March 1946, the UNRRA team in charge counted as residents 111 women, 96 men, and 11 children and adolescents of Polish nationality. Many of the female DPs knew each other from their imprisonment in the Salzwedel concentration camp in the Altmark region. Due to its own administration and long distance from the city centre, Camp Vinnhorst was relatively autonomous in its development, offering cultural activities and vocational training courses, especially in the textile sector.
Dissolution of the camps in Hanover
By 1948, Camp Vinnhorst had dwindled to 50-60 people and was dissolved in 1949; the camp at Ohestrasse 8/9, cleared by the British authorities, was returned to the city in June 1949. Most of the Jewish DPs had emigrated to the USA and Canada following the establishment of Israel and after the relaxation of immigration regulations. By December 1950, the committee had only 250 members, who in the course of the 1950s either also emigrated or joined the German „Jewish Community“ which had been reestablished after 1945. – (Translation: CB)
Quellen | References
Archive | Archives
- American Jewish Joint Distribution Committee Archives, New York
AR 45/54 Germany - Wiener Library, London
- YIVO Institute for Jewish Research, New York
Displaced Persons Centers and Camps in Germany / Jewish DPs Periodicals
Literatur | Literature
- Anke Quast, Nach der Befreiung. Jüdische Gemeinden in Niedersachsen seit 1945 – das Beispiel Hannover, Göttingen 2001
Lexikoneintrag | Lexicon entry
Hannover – Jüdische DP-Gemeinde | Jewish DP Community
Letzte Aktualisierung: 15.02.2022