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„Wir waren frei und brauchten keine Angst mehr zu haben“
„Heimatlos, abgemagert, vernarbt, ängstlich, beraubt, verbittert, Zeugen von schrecklichen Dingen – das waren die Kinder des befreiten Europas“, schreibt der im DP-Camp Landsberg geborene Direktor der American Jewish Archives, Abraham J. Peck. Daher war insbesondere für die wenigen jüdischen Jungen und Mädchen eine umfassende physische und psychische Versorgung wichtig. Denn mit ihrer Zukunft verband die Scheerit Haplejta, wie sich die Gemeinschaft der Shoa-Überlebenden nannte, zahlreiche Wünsche und Hoffnungen.
Im Herbst des Jahres 1945 suchte die britisch-jüdische Hilfsorganisation Jewish Relief Unit (JRU) nach einem Erholungsheim für Jungen und Mädchen, die dem NS-Genozid entkommen waren. Zunächst wollte die JRU die Kinder im größten DP-Camp innerhalb der britischen Besatzungszone in Bergen-Belsen unterbringen. Doch dieses Vorhaben stieß bei der Militärregierung auf Ablehnung. Daher fiel die Wahl auf Lüneburg, da sich dort schon eine kleine jüdische Nachkriegsgemeinde etabliert hatte, die bei der Betreuung der Kinder unterstützend mit einbezogen werden konnte.
Schon im November 1945 kamen die ersten Jungen und Mädchen aus dem zerstörten Berlin an, sie sollten in einer intakten Umgebung und bei besserer Versorgungslage den Winter in Lüneburg verbringen. Dabei handelte es sich nicht nur um Waisen. Doch das dafür vorgesehene Gebäude in der Uelzener Straße war noch nicht bezugsfertig und die Kinder mussten vorerst bei Mitgliedern der jüdischen Gemeinde einquartiert werden, die sich aufopferungsvoll um die Kleinen kümmerten. Gleichwohl scheint die Aktion übereilt und schlecht organisiert gewesen zu sein. Nach dem Ausbruch von Scharlach und dem Tod eines Mädchens kam es auch zu Protesten von Angehörigen. Aufgrund ihrer Traumata litten die Erwachsenen darunter, dass ihre Kinder nun erneut von ihnen getrennt waren. Beide hatte während der Zeit der Verfolgung Schlimmes durchgemacht, die Lager überlebt oder jahrelang voller Angst vor Entdeckung im Versteck oder in der Illegalität verbracht.
Im Januar 1946 konnte das Haus in der Uelzener Straße endlich bezogen werden. „Kürzlich wurde in Lüneburg ein jüdisches Heim für 31 Kinder eröffnet“, meldete das Informationsblatt der „Association of Jewish Refugees in Great Britain“. Auch die Lüneburger Landeszeitung berichtete: „In nur fünf Wochen ist aus dem verwohnten und verwahrlosten Haus ein freundliches Heim entstanden“, schrieb ein deutscher Journalist am 5. Februar 1946. Da etliche Jungen und Mädchen viele Jahre keine Schule besuchen konnten, wurden vordringlich ihre Lese- und Schreibkompetenz gefördert sowie Englisch- oder Hebräisch-Kurse angeboten. Doch für die Bewohner, „meist Waisen oder Halbwaisen“, währte die Freude über ihr vorübergehendes Zuhause nicht lange. Die Militärregierung erhob Anspruch auf das Gebäude, die Kinder mussten ausziehen und wurden vorübergehend im sogenannten Mönchsgarten einquartiert. Bald entstand eine neue Unterkunft im heutigen Lüneburger Ortsteil Ochtmissen.
Nachdem die erste Gruppe im Sommer 1946 nach Berlin zurückgekehrt war, bezogen zunächst Kinder aus dem Rhein-Ruhr-Gebiet das Heim. Schon bald wurde die Einrichtung als streng koscheres Haus geführt. Einer Gruppe von zwölf jüdisch-orthodoxen Kindern folgten weitere erholungsbedürftige Jungen und Mädchen aus dem DP-Camp Bergen-Belsen, die in der Regel mindestens sechs Wochen in Lüneburg verbrachten. Doch auch als Sprungbrett für die Auswanderung nach Palästina wurde die Einrichtung genutzt. „Das Kinderheim in Lüneburg ist mehr oder weniger mit Belsen-Kindern belegt, obwohl es ein reges Kommen und Gehen zu geben scheint, seit jeden Monat die Transporte nach Palästina gehen“, berichtete ein JRU-Mitarbeiter. Seit Ende 1946 hatten nämlich die Briten einigen unbegleiteten Kindern die Einreise nach Erez Israel gestattet, im Frühjahr 1947 wurde das Programm, das unter dem Namen „Operation Grand National“ in die Geschichtsbücher einging, auch auf Erwachsene ausgeweitet. Von den rund 1.500 Einwanderungszertifikaten, die monatlich weltweit ausgestellt wurden, waren nun 375 für jüdische DPs aus der britischen Besatzungszone reserviert – darunter befanden sich viele Kinder und Jugendliche.
Ab Sommer 1948 zeichnete sich die Schließung des Kinderheims in Lüneburg ab, die Belegzahlen gingen deutlich zurück und sowohl die deutschen als auch die britischen Behörden zeigen Interesse an dem Gebäude. Anfang September 1948 lebten nur noch 13 Kinder im Heim, zum Ende des Monats hatte auch diese die Einrichtung verlassen. Trotz aller Probleme hat das Heim aber „gute Arbeit geleistet, trotz der vielen mühevollen Momente“, resümiert eine JRU-Mitarbeiterin. Sie sah es als ihre Pflicht an, den Kindern „zu helfen, ihre erschütterten Seelen wieder in Ordnung zu bringen“ und sie ins Leben zurückzuführen. – (jgt)
A Jewish children’s home in Lüneburg 1945-48
„We were free and no longer needed to be afraid“
“Without a homeland, emaciated, scarred, fearful, bereft, embittered, having witnessed terrible things – these were the children of liberated Europe,“ writes American Jewish Archives director Abraham J. Peck, who was born in the Landsberg DP camp. As a result of this, especially for the few Jewish boys and girls, comprehensive physical and psychological care was important. The ‘Sheerit Hapleyta’, as the community of Shoa survivors called itself, had numerous wishes and hopes for their future.
In the autumn of 1945, the British-Jewish relief organisation ‘Jewish Relief Unit’ (JRU) was looking for a recuperation home for boys and girls who had escaped the Nazi genocide. Initially, the JRU wanted to house the children in Bergen-Belsen, the largest DP camp in the British occupation zone. This plan was, however, rejected by the military government, and so the choice fell on Lüneburg, since a small Jewish post-war community had already established itself there, and which could be involved in helping with the care of the children.
As early as November 1945, the first boys and girls arrived from a devastated Berlin. They were to spend the winter in Lüneburg in an intact environment and with better provisions. There were not only orphans. However, the building in Uelzener Straße intended for this purpose was not yet ready to move into, so the children had to be temporarily accommodated with members of the Jewish community, who selflessly took care of the little ones. Nevertheless, the action seems to have been too hasty and poorly organised. After the outbreak of scarlet fever and the death of one girl, there were also protests from relatives. Having endured their traumatic experiences, the adults suffered from the fact that their children were now once again separated from them. Both had experienced terrible things during the time of persecution, surviving the camps or spending years in hiding or underground illegally in fear of being discovered.
In January 1946, they were finally able to move into the house in Uelzener Straße. „Recently a Jewish home for 31 children was opened in Lüneburg,“ reported the newsletter of the „Association of Jewish Refugees in Great Britain.“ The Lüneburger Landeszeitung also reported: „In only five weeks, a friendly home has sprung up from the dilapidated and neglected house,“ a German journalist wrote on February 5, 1946. Since quite a number of boys and girls had not been able to attend school for many years, their literacy skills were promoted as a matter of priority, and English or Hebrew courses were offered. For the residents, however, “mostly orphans or half-orphans,” the joy of their temporary home did not last long. The military government laid claim to the building, the children had to move out and were temporarily housed in the so-called Mönchsgarten. Soon new accommodation was built in what is now the Lüneburg district of Ochtmissen.
After the first group had returned to Berlin in the summer of 1946, children from the Rhine-Ruhr area initially moved into the home. Soon the institution was run as a strictly kosher home. A group of twelve Jewish Orthodox children was followed by other boys and girls from the Bergen-Belsen DP camp in need of recuperation, who usually spent at least six weeks in Lüneburg. But the institution was also used as a stepping stone for emigration to Palestine. „The children’s home in Lüneburg is more or less occupied by Belsen children, although there seems to be a lot of coming and going since the transports to Palestine started leaving every month,“ reported a JRU employee. Since late 1946, the British had in fact allowed some unaccompanied children to enter Erez Israel, and in the spring of 1947 the programme, going down in the history books as „Operation Grand National,“ was expanded to include adults. Of the approximately 1,500 immigration certificates issued monthly worldwide, 375 were now reserved for Jewish DPs from the British occupation zone – among them many children and young people.
From the summer of 1948, it became apparent that the children’s home in Lüneburg would be closed, the number of occupants dropped significantly, and both the German and British authorities showed interest in the building. At the beginning of September 1948, only 13 children were still living in the home, and by the end of the month they, too, had left the institution. In spite of all the problems, however, the home „did a good job, despite the many troublesome moments,“ a JRU employee concluded. She felt it was her duty to help the children „put their shocked souls back in order“ and lead them back into life. – (Translation: CB)
Quellen | References
Archive | Archives
- Stadtarchiv Lüneburg
- Wiener Library, London
- UN Archives, New York
Literatur | Literature
- Nicola Schlichting, „… wenn sie nach einigen Wochen zurückkehren, sehen sie viel besser aus“. Ein Heim für jüdische Kinder in Lüneburg 1945 bis 1948, in: Jim G. Tobias/Nicola Schlichting (Hg.), nurinst 2016, S. 27–42
Lexikoneintrag | Lexicon entry
Lüneburg – Jüdisches Kinderheim | Jewish Children’s Center
Letzte Aktualisierung: 07.10.2021