For English version please scroll down
Arbeitersiedlung verwandelte sich in ein Heim für junge Überlebende der Shoa
„Nach der Auflösung des Ghettos versteckten wir uns über ein Jahr lang in einem Kellerloch“, erzählt Leon Milch viele Jahrzehnte später nicht ohne Emotion. Im Juni 1943 war das Ghetto Podhajce im Bezirk Tarnopol liquidiert und über zweitausend Menschen waren von den Deutschen ermordet worden. Nur mit viel Glück erlebten der damals 11-Jährige und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Bernhard die Befreiung, als sowjetische Truppen die Region um Tarnopol im Frühjahr 1944 einnahmen. Nach einer langen Odyssee strandeten die beiden gebürtigen Polen mit einer Gruppe von Waisenkindern im Frühjahr 1946 im oberbayerischen Aschau (Landkreis Mühldorf).
Solche von zionistischen Aktivisten zusammengestellten und gelenkten Gruppen erreichten Deutschland bereits als gut organisierte Jugendkollektive, deren Mitglieder von einem freien und selbstbestimmten Leben im Kibbuz träumten. Sie gehörten zu den ersten jüdischen Bewohnern der ehemaligen Arbeitersiedlung der Dynamit Nobel AG. Die Jungen und Mädchen waren auf dem Weg das „Todeshaus Europa“ zu verlassen, um in Palästina ein neues Leben zu beginnen. Für sie gab es keine Zukunft in der alten Heimat mehr. „Einige von uns haben Auschwitz überlebt“, erinnert sich Yola Schneider ,die sich nach der Liquidierung des Warschauer-Ghettos als Elfjährige mit falschen Papieren retten konnte.
Die amerikanische Militärregierung quartierte die Shoa-Überlebenden im Aschauer Ortsteil Waldwinkel ein. Nach dem Krieg wurden überall in Bayern jüdische Lager, Camps für Displaced Persons (DPs), eingerichtet, wie sie auch in Föhrenwald, Pocking oder Landsberg nachweisbar sind – in denen Tausende von jüdischen Bewohnern lebten. Aschau unterschied sich jedoch von diesen Massenlagern: Hier entstand ein sogenanntes Children’s Center, ein Heim für elternlose Kinder. Die Mehrheit der Ankömmlinge stammte aus Polen, aber auch Ungarn oder Rumänen befanden sich unter ihnen.
Unmittelbar nach ihrer Ankunft in Aschau wurde begonnen, das Alltagsleben zu organisieren. Unterstützung erfuhr man dabei von der UN-Flüchtlingsbehörde UNRRA sowie von verschiedenen jüdischen Hilfsorganisationen, die neben den nötigen Sachleistungen auch die Lebensmittel lieferten. Schon bald wurden die täglichen Mahlzeiten von den Betreuern und zeitweise angestellten deutschen Hilfskräften in der Lagerküche zubereitet. Da die im selben Gebäude untergebrachte Kantine zu klein war, mussten die Kinder ihr Frühstück, Mittag- und Abendessen jedoch in zwei Schichten einnehmen. Im Speisesaal fanden aber auch kulturelle, religiöse und politische Veranstaltungen der Selbstverwaltungsgremien statt.
Durchschnittlich lebten 400 jüdische Jungen und Mädchen mit ihren Betreuern in der Siedlung, die aus 22 kleinen Wohnhäuschen sowie 14 Verwaltungs- und Versorgungsgebäuden bestand. Die Kinder und Jugendlichen gehörten mehrheitlich entweder der linkszionistischen Jugendorganisationen Dror oder der religiös-zionistischen Vereinigung Bnei Akiba an und sollten bis zur endgültigen Ansiedlung in Erez Israel zusammenbleiben. Da jedoch eine offizielle Emigration nach Palästina kaum möglich war – die englische Mandatsmacht verwehrte den Juden die Einreise – nutzte man die Wartezeit sinnvoll: Zeitweise besuchten 275 Kinder die lagereigene jüdische Volksschule und lernten neben Schreiben, Rechnen und Lesen begeistert ihre neue „Muttersprache“ Hebräisch; die noch nicht schulpflichtigen Jungen und Mädchen gingen in den Kindergarten, während bis zu 130 Jugendliche verschiedene Lehrgänge für handwerkliche Berufe belegen konnten.
Das Kinderzentrum verfügte über eine eigene Lagerbibliothek mit rund 700 Bänden, darunter Bücher von Goethe, Tolstoi oder Kleist, aber auch ostjüdische Klassiker wie etwa „Tewje der Milchmann“ von Scholem Alejchem. Zur Zerstreuung wurden zudem öfters Filme gezeigt. Im Sommer 1946 lief etwa der jiddischsprachige Streifen „Mirele Efros“ nach der Romanvorlage von Jacob Gordin sowie die Verfilmung des Bühnenstücks „Grine Felder“ von Peretz Hirschbein. Die Jungen und Mädchen waren begeisterte Kinogänger und fuhren daher manchmal sogar in die benachbarte Ortschaft Kraiburg, um sich im dortigen Lichtspielhaus die neuesten Filme anzuschauen. Außerdem existierte eine eigene Fußballmannschaft. Im April 1946 reiste das Team von Kadima (Vorwärts) Aschau sogar zu einem Freundschaftsspiel gegen Makabi Bamberg ins Fränkische. Ende Dezember 1946 fand ein besonderes Sportereignis in Aschau statt: Die regionalen „Jidiszen Ping-Pong Majsterszaftn“. Vom 24. bis 26. Dezember spielten Mannschaften aus den oberbayerischen DP-Camps in Aschau die jüdische Tischtennismeisterschaft aus.
Sporadisch verließen immer wieder kleine oder größere Gruppen den „Wartesaal“ und machten sich illegal auf die Reise ins Gelobte Land. Einige erreichten Palästina; viele wurden jedoch zurückgeschickt und in englische Internierungslager auf der Insel Zypern eingesperrt. Nur Wenige erhielten Visa der englischen Mandatsmacht. Im Herbst 1946 sollte eine Gruppe die begehrten Einreisepapiere erhalten. Doch die Verantwortlichen entschieden sich kurzfristig anders: „Kinder aus einem anderen Lager erhielten die Visa, nicht wir in Aschau“, erinnert sich Yola Schneider, die es, wie auch Leon und Barry, letztlich nach Australien verschlug.
Die Mehrheit der Aschauer Kinder wanderte aber – die letzten nach Proklamation des Staates Israel im Mai 1948 – ins Gelobte Land ein. Zu dieser Zeit schloss auch das Children’s Center seine Pforten und verwandelte sich für knapp zwei Jahre in ein Berufsausbildungs- und Rehabilitationszentrum für Überlebende der Shoa. 1950 übernahm die katholische Ordensgemeinschaft der „Salesianer Don Bosco“ das Gelände und errichtete dort das Berufsbildungswerk Waldwinkel, eine Ausbildungsstätte für Jugendliche mit körperlicher, sozialer oder psychischer Behinderung. – (jgt)
Aschau – A Forgotten Jewish Orphanage
Workers‘ settlement transformed into a home for young survivors of the Shoah
„After the dissolution of the ghetto, we hid in a cellar for more than a year,“ Leon Milch tells us – not without emotion decades later. In June 1943, the Podhajce ghetto in the Tarnopol district had been liquidated and more than two thousand people had been murdered by the Germans. It was only with a great deal of luck that the then 11-year-old and his brother Bernhard, two years younger, were liberated after Soviet troops seized the region around Tarnopol in the spring of 1944. After a long odyssey, the two native Poles ended up stranded with a group of orphans in the Upper Bavarian town of Aschau (Mühldorf district) in the spring of 1946.
Such groups, put together and controlled by Zionist activists, reached Germany, already as well-organised youth collectives whose members dreamed of a free and self-determined life on the kibbutz. They were among the first Jewish inhabitants of the former workers‘ settlement of Dynamit Nobel AG. The boys and girls were on their way to start a new life in Palestine, leaving the “European House of Death” behind them. There was no future for them in their old homeland. „Some of us survived Auschwitz“, remembers Yola Schneider, who, as an eleven-year-old, was able to save herself following the liquidation of the Warsaw Ghetto using false papers.
The American military government accommodated the Shoah survivors in the Waldwinkel district of Aschau. After the war, Jewish camps, Camps for Displaced Persons (DPs), were set up all over Bavaria, as seen in Föhrenwald, Pocking or Landsberg, where thousands of Jewish inhabitants lived. Aschau differed from these mass camps however; here, a so-called Children’s Centre was established – a home for orphaned children. The majority of the arrivals came from Poland, but there were also Hungarians and Romanians among them.
As soon as they arrived in Aschau they started to organise their daily life. Support was provided by the UN refugee agency UNRRA and by various Jewish aid organisations, who supplied the necessary materials and food. Soon daily meals were being prepared in the camp kitchen by the carers and temporarily employed German aid workers. As the canteen – housed in the same building – was too small, the children had to take their breakfast, lunch and dinner in two shifts. The dining hall was also used for cultural, religious and political events of the self-governing committees.
On average, 400 Jewish boys and girls and their carers lived in the settlement, which consisted of 22 small residential houses and 14 administrative and supply buildings. The majority of the children and young people belonged either to the left-wing Zionist youth organisations Dror or to the religious Zionist association Bnei Akiba, and were to stay together until their final settlement in Eretz Israel. However, as official emigration to Palestine was almost impossible (the English Mandate power refused the Jews entry), they spent their waiting time wisely; at times 275 children attended the camp’s own Jewish primary school. In addition to reading, writing and arithmetic, they were enthusiastic about learning their new „mother tongue“ Hebrew; the boys and girls below school age went to kindergarten, while up to 130 young people could attend various courses learning manual trades.
The children’s centre had its own camp library with around 700 books, including books by Goethe, Tolstoy and Kleist, and also East Jewish classics such as „Tewje the Milkman“ by Scholem Alejchem. Films were also frequently shown, providing entertainment and distraction. In the summer of 1946, for example, the Yiddish language film „Mirele Efros”, (based on the novel by Jacob Gordin) and the film adaptation of the stage play „Grine Felder“ by Peretz Hirschbein were shown. The boys and girls were keen cinema-goers and sometimes even travelled to the neighbouring village of Kraiburg to watch the latest films in the cinema there. Apart from that they also had their own football team, and in April 1946 the team of Kadima (“Forwards”) Aschau even travelled to Franconia for a friendly match against Makabi Bamberg. At the end of December 1946 a special sports event took place in Aschau: the regional „Jidiszen Ping-Pong Majsterszaftn“. From December 24 to 26, teams from the Upper Bavarian DP camps held the Jewish Table Tennis Championship in Aschau.
Every so often smaller or larger groups left the „waiting room“, making their journey to the Promised Land illegally. Some of them reached Palestine, but many were sent back and locked up in English internment camps on the island of Cyprus. Only a few received visas from the British Mandate power. In the autumn of 1946 a group was supposed to receive these coveted entry papers, but those responsible changed their minds at short notice: „Children from another camp received the visas, not us in Aschau,“ recalls Yola Schneider, who – like Leon and Barry – eventually ended up in Australia.
The majority of the children in Aschau, however, immigrated to the Promised Land – the last of them following the proclamation of the State of Israel in May 1948. The Children’s Centre at that time also closed its doors and became a vocational training and rehabilitation centre for Shoah survivors for almost two years. In 1950 the Catholic community of the „Salesians Don Bosco“ took over the premises and established the Waldwinkel Vocational Training Centre, a training centre for young people with physical, social or psychological disabilities. – (Translation: CB)
Quellen | References
Archive | Archives
- American Jewish Joint Distribution Committee Archives, New York
AR 45/54 Germany - Stadtarchiv Waldkraiburg
- YIVO Institute for Jewish Research, New York
Leo W. Schwarz Papers / Displaced Persons Centers and Camps in Germany
Literatur | Literature
- Getrude Pollitt, Children of Seperation and Loss, Lanham (MD) 2014
- Jim G. Tobias, Die jüdischen DP-Lager Pürten (Waldkraiburg) und das Kinderlager Aschau, in: Jim G. Tobias/Peter Zinke (Hg.) nurinst 2004 – Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte, Nürnberg 2004
Lexikoneintrag | Lexicon entry
Aschau – Jüdisches DP-Kinderlager | Jewish DP Children’s Center
Letzte Aktualisierung: 11.08.2020